Der NATO-Gipfel in Washington ist zu Ende. Das Kriegsbündnis rüstet sich verstärkt für die Offensive, eine halbe Million NATO-Soldaten befinden sich mittlerweile in «hoher Bereitschaft». Die Mitgliedstaaten wurden aufgefordert, die Waffenproduktion hochzufahren und auszubauen. China rückt verstärkt in den Fokus.
Von Jörg Kronauer
Madrid, Vilnius, Washington: Das waren die Schauplätze der drei Gipfeltreffen, die die NATO seit dem Beginn des Ukraine-Krieges abgehalten hat. Abgesehen davon, dass bei allen dreien jeweils die militärische Unterstützung für die Ukraine sowie die Frage, ob das Land in das Bündnis aufgenommen werden soll, eine zentrale Rolle spielten: Die NATO nutzte ihre Gipfel, sich systematisch gegen Russland in Stellung zu bringen. In Madrid beschloss sie zunächst ihr neues Streitkräftemodell, das unter anderem vorsah, stets mindestens 300.000 Soldaten in hoher Bereitschaft zu halten. Mitte Juni meldete Jens Stoltenberg nicht nur Vollzug, sondern mehr: Man habe mittlerweile gut eine halbe Million Soldaten in hoher Bereitschaft, teilte der Generalsekretär der NATO mit. Ein Ziel des Madrider Gipfels ist also in der Hauptsache realisiert. In Vilnius beschloss das Bündnis dann, konkrete Verteidigungspläne zu erstellen, die das Vorgehen im Kriegsfall regeln und den NATO-Staaten jeweils Operationsgebiete zuordnen. Die nationalen Verteidigungspläne liegen mittlerweile vor.
Was aber noch fehlt, das sind vor allem Waffen und Munition, und zwar in dem Umfang, den die NATO für erforderlich hält, um die Verteidigungspläne bei Bedarf in die Praxis umzusetzen. Das war ein zentrales Thema auf dem Washingtoner Jubiläumsgipfel, der am Donnerstag nachmittag (Ortszeit) zu Ende ging. Die NATO hatte dafür am Mittwoch ein eigenes Treffen anberaumt. Auf ihm wurde eine Vereinbarung mit dem Titel «NATO Industrial Capacity Expansion Pledge» unterzeichnet, in der sich die Mitgliedstaaten darauf festlegten, ihre Rüstungsproduktion weiter auszudehnen. Zum einen sollen neue industrielle Kapazitäten geschaffen, sprich: Waffenfabriken gebaut werden. Zum anderen soll jeweils die Produktion so schnell wie möglich hochgefahren werden. All dies dient selbstverständlich auch dazu, die Ukraine mit Kriegsgerät zu beliefern. Langfristig werden damit jedoch vor allem die NATO-Streitkräfte aufgerüstet. Ein Abgleich mit den Verteidigungsplänen des Bündnisses zeige, «wo die Lücken sind», zitierte die FAZ am Rande des Washingtoner Gipfels einen führenden NATO-Beamten.
«Lücken» finden sich dem Beamten zufolge nicht nur in den Munitionsbeständen, sondern etwa auch in der Aufklärungs- und Kommunikations-IT sowie in der Logistik, was nicht zuletzt für Deutschland von Bedeutung ist. Schliesslich nimmt die Bundesrepublik in den NATO-Plänen für einen Krieg gegen Russland vor allem die Funktion einer Drehscheibe ein, über die Truppen und Waffen in Richtung Osten verlegt werden. Eine weitere «Lücke» erkennt die NATO bei Waffen, die «Schläge in der Tiefe» möglich machen – Angriffe auf weit entfernte Ziele mitten im feindlichen Territorium. Um die «Lücke» zu füllen, unterzeichneten die Verteidigungsminister Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Polens am Rande des Gipfels eine Absichtserklärung zur Entwicklung einer Waffe – im Gespräch ist ein Marschflugkörper oder auch eine Hyperschallrakete – mit weit mehr als 1.000, vielleicht 2.000 Kilometern Reichweite. Sie könnte also Moskau erreichen. Weil die Entwicklung viel Zeit erfordern dürfte, will Washington ab 2026 übergangsweise «Tomahawk»-Marschflugkörper und Hyperschallraketen vom Typ «Dark Eagle» in Deutschland stationieren.
Was die Ukraine anbelangt – sie bekam in Washington warme Worte und weniger, als sie gewollt hatte. Dass sie keine Beitrittszusage erhalten werde, war von vornherein klar. Auf heftigen Druck vor allem aus dem Baltikum und aus Polen definierte die NATO Kiews Weg zu einer Mitgliedschaft im Bündnis als «unumkehrbar». Das heisst aber nicht viel. Schliesslich kann man auf einem Weg auch lange, sogar dauerhaft stehenbleiben, ohne umzukehren. Präsident Wolodimir Selenskij erhielt eine Zusage nicht für die sieben «Patriot»-Flugabwehrsysteme, die er eigentlich gefordert hatte, sondern für vier zuzüglich ein «Samp/T»-Flugabwehrsystem aus italienischer Produktion. Bei der Lieferung der zugehörigen Abwehrraketen soll die Ukraine künftig Vorrang erhalten. Das heisst, andere Staaten, die gleichfalls Abwehrraketen bestellt haben, müssen länger warten. Das US-Kommando in Wiesbaden, das zur Zeit die Aufrüstung und die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte koordiniert, wird in ein NATO-Kommando umgewandelt, damit ein etwaiger US-Präsident Donald Trump es nicht auflösen kann. Es soll rund 700 Militärs umfassen. Deutschland wird 40 davon stellen. Die Bundesregierung wollte ursprünglich deutlich mehr.
Ein gesondertes Treffen gab es nicht nur mit der Ukraine, sondern auch mit den vier engen NATO-Verbündeten der Asien-Pazifik-Region: Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Es ging um die Weiterentwicklung von Strategien vor allem gegen China, aber auch gegen Nordkorea. Unter den europäischen NATO-Staaten ist das nach wie vor nicht unumstritten; unter anderem Frankreich hat sich immer wieder gegen allzu intensive NATO-Aktivitäten in der Asien-Pazifik-Region positioniert: Je mehr das transatlantische Bündnis dort erledigt, desto grösser die US-Kontrolle, desto geringer der eigene Spielraum der europäischen Mächte. In Washington bestand vor allem Ungarns Aussenminister Péter Szijjártó hartnäckig darauf, die NATO sei «ein Verteidigungsbündnis»: «Wir können sie nicht zu einem Anti-China-Block machen», erklärte er am Rande des Gipfels.
Insofern hatte es auch eine Funktion für die internen Auseinandersetzungen in der NATO, dass vor allem US-Politiker auf dem Gipfeltreffen darauf herumritten, Russland führe seinen Krieg, wie es ein leitendes Mitglied der Washingtoner Foundation for Defense of Democracies formulierte, «mit der Unterstützung Irans, Nordkoreas, und Chinas». Man könne also nicht nur gegen Russland, man müsse zugleich und nicht zuletzt gegen China vorgehen. Stoltenberg konstatierte, in die Gipfelerklärung habe man «die stärkste Botschaft» hineinformuliert, «die die NATO-Verbündeten jemals zu Chinas Beitrag für Russlands illegalen Krieg gegen die Ukraine gesandt haben». Die NATO entwickelt sich damit immer mehr vom transatlantischen zum globalen, zum Weltkriegsbündnis.
Quelle: junge Welt