Der Tanz mit der Bombe

Im Kalten Krieg versuchten hohe Militärs in der Schweiz, eine eigene Atombombe herzustellen. Im Atommeiler zwei Kilometer südwestlich des Waadtländer Städtchens Lucens sollten insgeheim Nuklearwaffen produziert werden. Am 21. Januar 1969 ereignete sich dort ein schwerwiegender Atomunfall. Es war das gravierendste Reaktorunglück, das die Schweiz bislang heimsuchte.

Von Peter Beutler

Die Bewohner bemerkten zunächst nichts davon. Die Katastrophe geschah in einer Kaverne, hundert Meter tief in einem Felsen. Trotzdem konnte nicht verhindert werden, dass die Umgebung der Anlage radioaktiv verstrahlt wurde. Was nach Tschernobyl weltweit Schlagzeilen gemacht hätte, blieb damals weitgehend unbeachtet. Die Angst vor einer radioaktiven Verstrahlung war Ende der 1960er Jahre durchaus ein Thema, doch dachte man dabei an einen Atomkrieg mit einem klar ausgemachten Feind: die Sowjetunion mit ihrem unheilschwangeren Nuklearwaffenarsenal. Es war die Zeit des Kalten Kriegs.
(…) Als man Ende der 1950er Jahre den Entschluss fasste, eine atomare Spielwiese in Lucens einzurichten, stand keineswegs – wie behauptet wurde – eine autarke Energieversorgung im Vordergrund. Die Strategen der schweizerischen Landesverteidigung – hohe Militärs, Politiker des rechtsbürgerlichen Spektrums und namhafte Industrievertreter – hatten dabei nur eines im Auge: Wie kommt die Schweiz zu Atombomben? Kaufen konnte man sie nicht. Es wurde zwar versucht. Dazu klopften hohe Schweizer Offiziere beim Kreml an, um an diese Waffe zu gelangen. Die Dreistigkeit, die sie dabei an den Tag legten, war grotesk. Als Trägergeräte entschieden sie sich für den französischen Hochleistungsjet Mirage. Diese Maschinen könnten – so sinnierten sie – bis nach Moskau fliegen, dort ihre Bombenlast abwerfen und wieder in unser Land zurückkehren, ohne zwischendurch aufzutanken. Aus diesem Deal wurde nichts.
Um sich die nuklearen Wunschträume dennoch zu erfüllen, blieb der Schweiz nichts anderes übrig, als die Bombe selbst zu bauen. Doch der dafür geeignete Rohstoff Plutonium war nicht käuflich. Auch den musste man in Eigenproduktion herstellen, möglichst aus einem Rohstoff, der einfach zu beschaffen war oder vielleicht sogar in der Schweiz vorkommt. Aus Natururan wäre das zu machen. Über einen schwerwassermoderierten Reaktor, mit dessen abgegebener Wärme eine Dampfturbine zur Stromgewinnung betrieben werden kann, entsteht als Nebenprodukt der Nuklearsprengstoff Plutonium. Solche Reaktoren existierten bereits seit 1945 in den USA und seit 1946 in der Sowjetunion.

Atommüll im Visier
Ende der 1950er Jahre gab es mehrere Länder mit abbauwürdigen Uranvorkommen. Die im Alpenbogen vermuteten Vorräte erwiesen sich allerdings als so spärlich, dass Uran daraus nur unter immensem Aufwand zu gewinnen gewesen wäre. Das zeichnete sich bereits anfangs der 1960er Jahre ab, als man in Höhlen, Stollen und Tunneln von insgesamt mehreren hundert Kilometern Länge danach suchte. Damit war die Aussicht vom Tisch, die Schweiz, zumindest was die Elektrizität betraf, grösstenteils mit Eigenenergie zu versorgen. Für die Promotoren der Atomwaffen war das kein Problem. Ihnen ging es ja nicht um die Betreibung eines sich rechnenden Kernkraftwerks. Allein von Interesse war der strahlende Atommüll in Form des Elements Plutonium.
Die den Bau des Atommeilers von Lucens vorantreibenden Militärs, Industriellen und Nuklearwissenschafter waren sich bewusst, dass sie Regierung, Parlament und Volk hinters Licht führten. Denn offen eingestehen, dass es dabei um die Produktion von Nuklearwaffen ging, konnten sie aus zwei Gründen nicht. Erstens: Die USA hatten den Verantwortlichen in der Schweiz unmissverständliche Signale gesendet. «Sollte es euch einfallen, Atombomben zu bauen, werden wir der Schweizer Armee keine Ersatzteile mehr liefern.» Waffen, Fahrzeuge und ein Teil der Flieger stammten grösstenteils aus Amerika. Zweitens: Wäre nicht der verschleierte Weg eingeschlagen worden, hätten die horrenden Kosten des geplanten helvetischen Atomprogramms schon von Anfang an transparent gemacht werden müssen. Ein Aufschrei der Bevölkerung wäre unvermeidlich gewesen. Die Projektstudien wären schon vor dem ersten Spatenstich im Juli 1962 zu Makulatur geworden.
Im Sommer 1961 kam es zur Gründung der «Nationalen Gesellschaft zur Förderung der industriellen Atomtechnik», NGA, eines Konsortiums aus zweiundzwanzig Industrieunternehmen unter Mitbeteiligung des Bundes. Die beiden Kammern des Parlaments beschlossen eine Kostenbeteiligung der Eidgenossenschaft am Projekt Lucens von fünfzig Millionen Franken. Ein Betrag, der hochgerechnet heute eine halbe Milliarde betragen würde. Die Leistung des Bundes sollte fünfzig Prozent des Gesamtaufwandes nicht übersteigen.

Rückzug der Stromkonzerne
Bereits ein Jahr nach Baubeginn zeichnete sich ab, dass die Versuchsanlage nicht wie vorgesehen im Sommer 1965 in Betrieb genommen werden konnte, sondern frühestens 1967. Es liess sich auch nicht mehr verheimlichen, dass die Kosten mindestens doppelt so hoch als anfänglich veranschlagt sein würden.
1963 platzte mitten in eine Sitzung des Verwaltungsrates der NGA eine Hiobsbotschaft. Die Nordostschweizer Kraftwerke, NOK, planten, in Beznau ein schlüsselfertiges amerikanisches Atomkraftwerk auf Basis eines Leichtwasserreaktors zu bauen. Dieser Reaktortyp wird mit Uran- 238, das in Natururan zu 0,7 Prozent vorkommt, betrieben. Solches Uran musste von den USA gekauft werden. Es selber anzureichern wäre aus Kostengründen und fachtechnischen Gründen für die Schweiz nicht machbar gewesen. Wenig später liessen weitere Elektrizitätsgesellschaften erkennen, dem Beispiel der NOK folgen zu wollen. Damit war die eigentliche Zielgruppe der schweizerischen Reaktortechnik aus dem Projekt ausgestiegen, lange bevor das Werk in Lucens ans Stromnetz gehen konnte.
(…) Nach dem Quasi-Ausstieg der grossen Stromkonzerne war es keine Frage mehr, dass Lucens nie rentabel sein konnte. Trotzdem stoppte man das Vorhaben nicht, weil wohl in den Hinterköpfen immer noch die helvetische Nuklearbombe herumgeisterte.

Mirage-Skandal
Im Mai 1964 beantragte der Bundesrat einen Nachtragskredit von über einer halben Milliarde Franken für die Beschaffung des Hochleistungskampfjets Mirage. Schweizer Atomwaffen waren nur denkbar mit der kostenverschlingenden Mirage. Eine Alternative gab es nicht. Dass sich innert drei Jahren die Aufwendungen dafür nahezu verdoppelt hatten – im Juni 1961 stimmte das Parlament dem Kauf von Mirages zu und bewilligte einen Kredit von achthunderteinundsiebzig Millionen Franken –, schluckten weder der National- noch der Ständerat. Statt auf die Regierungsvorlage einzutreten, beschlossen die Räte, zum ersten Mal in der Geschichte des Eidgenössischen Bundestaates eine Parlamentarische Untersuchungskommission, PUK, einzusetzen. Deren anfangs September veröffentlichter Bericht fiel verheerend aus. Es war offensichtlich: Das Militärdepartement hatte den Bundesrat, das Parlament und die Öffentlichkeit getäuscht. Sowohl der Generalstabschef wie der Kommandant der Luftwaffe wurden ihres Amtes enthoben. Auch im zivilen Kader des Militärdepartements kam es zu einem Köpferollen. Von den vorgesehenen hundert Jets wurde letztendlich kaum mehr als ein Drittel gekauft, zu wenig, um Nuklearwaffen in Kampfeinsätzen zu transportieren. Der Traum einer Schweizer Atombombe war ausgeträumt. Das zunehmend stotternde Bauperioden durchlebende Projekt Lucens hatte jeden Sinn verloren. Trotzdem wurde es nicht aufgegeben.
Lucens wurde mit Bundesmitteln fertig gebaut. Man nahm sich vor, das Werk nach einer zweijährigen Betriebsdauer wieder stillzulegen.


«Zorniger Schweizer Atombombewerfend», schrieb der Schweizer Dramatiker und Autor von «Die Physiker» in den 6oer Jahren unter seine Skizze.

Die angekündigte Katastrophe
Anfang 1968 ging es zum ersten Mal ans Netz. Es kam zu Pannen. Der Reaktor musste im November 1968 heruntergefahren werden. Die Revisionsarbeiten zogen sich über Monate hin. Am frühen Morgen des 21. Januar 1969 wurde wieder gestartet. Um siebzehn Uhr fünfzehn ereignete sich die Katastrophe. Ein Brennelement begann zu schmelzen. Es kam zu einer Knallgasexplosion in der Reaktorkaverne, die alles zerstörte, was sich darin befand. Obwohl die Panzertür des Raums nach dem Knall automatisch schloss, konnte nicht verhindert werden, dass sich Radioaktivität in die anderen Kavernen ausbreitete. Im Kommandoraum musste mit Schutzmasken gearbeitet werden.
Stunden später wurde auch ausserhalb des Werks eine erhöhte Radioaktivität gemessen. Die Werte wurden geheim gehalten. Sie seien unbedenklich, war einem Communiqué der Strahlenschutzbehörde zu entnehmen.
Wie fragwürdig solche Verlautbarungen waren, kam erst zwei Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit, als eine Gruppe von AKW-Gegnern sich dafür zu interessieren begann, wie hoch die Verstrahlung Ende der 1980er Jahre in der Umgebung des stillgelegten Kraftwerks wirklich war. Und tatsächlich, es gab damals Hotspots ausserhalb der Umzäunung der Anlage mit einer Strahlendosis von vierzig Millisievert pro Jahr. Die tolerierbare jährlich aufgenommene Dosis von Mitarbeitern in Labors, die mit radioaktiven Substanzen arbeiten, ist auf zwei Millisievert pro Jahr festgesetzt. Wie hoch war sie nach dem Unfall 1969 in der Gegend von Lu-cens wohl gewesen? Das lässt sich nicht genau hochrechnen, aber mit Bestimmtheit war sie um ein Vielfa-ches höher als die natürliche Radioak-tivität. Hinweise, dass Personen nach der Kernschmelze in Lucens strah-lenkrank wurden, gibt es keine. Doch wenn zwanzig Jahre nach dem Unfall in der Umgebung des Versuchskraft-werks immer noch Stellen mit der zwanzigfachen natürlichen Dosis ge-funden wurden, ist davon auszugehen, dass diese im Januar 1969 hundert-bis zweihundertmal höher lagen. Ist die Dosis höher als das Fünfzigfache des natürlichen Werts, besteht für die Betroffenen ein erhebliches Risiko, an Krebs zu erkranken. Eine Statistik, aus der die Krebssterblichkeit von Lu-cens und Umgebung hervorgeht, gibt es bis heute nicht. Noch Monate nach dem 21. Januar 1969 war es nicht möglich, die Ka-vernen von Lucens zu betreten. Man behalf sich mit ferngesteuerten Ka-meras und Messgeräten. Die Reaktor-kaverne wurde mit Beton aufgefüllt. Darin befindet sich immer noch hoch kontaminiertes Material, das sich in den Minuten nach der Kernschmelze gebildet hat. Es wird noch über Milli-onen Jahre lebensbedrohlich strahlen. Ausserhalb der Reaktorkaverne musste alles dekontaminiert und ab-montiert werden. Die Kosten betrugen fünfundzwanzig Millionen Franken. Das war in den 1970er Jahren. Heute wären es über hundert Millionen. Seit der Jahrtausendwende dient die Anlage von Lucens als kulturelles Zentrum.

(Erschienen in «Unsere Welt», 04/2018. Auszug aus dem Nachwort von Peter Beutler zu seinem Kriminalroman «Der Lucens-Gau», Emons-Verlag 2018. Zwischentitel Redaktion UW. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.)