Kaum eine Debatte ist so verlogen wie die um die österreichische Neutralität. Und das seit zumindest drei Jahrzehnten. Ein längerer Rück- und ein kurzer Ausblick. Ein Beitrag der Friedensorganisation „Solidarwerkstatt Österreich“, Mitglied des Weltfriedensrats.
Von Gerald Oberansmayr
Im Juni 1989 stellte Österreich den Antrag zum Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Im „Brief nach Brüssel“ war explizit ein Neutralitätsvorbehalt enthalten. Darüber war die Europäische Kommission nicht erfreut. In einem Avis wies sie unmissverständlich auf die „immanente Problematik der Mitgliedschaft neutraler Staaten hin“. Das galt umso mehr, als sich die EG 1992 mit dem Vertrag von Maastricht zur „Europäischen Union“ (EU) wandelte, in dem – im Unterschied zur EG – eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik begründet wurde. So hieß es im Artikel J.1.4. unmissverständlich: „Die Mitgliedstaaten unterstützen die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und gegenseitigen Solidarität.“
Maastricht: „Ohne Wenn und Aber“
Spätestens ab diesem Zeitpunkt – 1992! – war klar: Neutralität und EU sind nicht miteinander vereinbar. Denn wenn ein neutrales Land etwas hüten muss wie seinen Augapfel, dann ist es die Unabhängigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Denn nur dadurch kann gewährleistet werden, dass ein Land den Kerngehalt der Neutralität erfüllen kann: Die Nichtteilnahme an Kriegen sowie die entsprechenden „Vorwirkungen der Neutralität“: d.h. sich aller Handlungen zu enthalten, die dazu führen, in kriegerische Handlungen hineingezogen zu werden – bzw. positiv: als glaubwürdiger Vermittler zwischen Konfliktparteien eine aktive Neutralitätspolitik zu betreiben, die sich für friedliche Konfliktlösungen engagiert. Doch siehe da: Der Neutralitätsvorbehalt, der gegenüber der EG noch stramm formuliert wurde, wurde gegenüber der EU, wo er mehr denn je notwendig gewesen wäre, sang- und klanglos fallen gelassen. Österreich werde „ohne Wenn und Aber“ der EU beitreten, ließ Bundeskanzler Vranitzky wissen. Völlig kontrafaktisch wurde behauptet, Neutralität und EU seien miteinander vereinbar.
Auch die EU-Kommission spielte nun plötzlich bei diesem doppelten Spiel mit. Denn Umfragen hatten im Jahr 1993 ein aus Sicht der EU-Befürworter beunruhigendes Ergebnis gebracht: Unter der Annahme der Unvereinbarkeit von EU-Beitritt und Neutralität sprachen sich 1993 68 % der Befragten für den Verzicht auf einen EU-Beitritt aus, nur 26 % dagegen für eine Aufgabe der Neutralität.
Die Platter-Doktrin
Damit schlug die Geburtsstunde einer Politik, die der spätere Verteidigungsminister Platter (ÖVP) einmal folgendermaßen beschrieb: „Die Neutralität ist tief im Herzen der Österreicher. Man muss behutsam sein und darf das nicht herausreißen. Es ist besser, eine Operation vorzubereiten, um das vorsichtig herauszuoperieren“ (in: Die Presse, 5.12.2003). Im Klartext: Die Neutralität soll scheibchenweise entsorgt werden – und auf dem Weg dorthin gilt: Lügen, Lügen und nochmals Lügen. Alle Regierungen – völlig unabhängig von der jeweiligen Parteienkonstellation – haben sich seither an diese „Platter-Doktrin“ gehalten.
Amsterdam: „Petersberg Aufgaben“
Mit jedem weiteren EU-Vertrag nach Maastricht trat die Unvereinbarkeit von Neutralität und EU-Mitgliedschaft deutlicher hervor: Mit dem EU-Vertrag von Amsterdam (1999) wurden die sog. „Petersberg Aufgaben“ in den Aufgabenkatalog der EU übernommen. Mit diesen Petersberg Aufgaben gab sich die EU selbst das Mandat, „Kampfeinsätze bei Krisenbewältigung“ durchzuführen – überall auf der Welt. Faktisch eine Ermächtigung zu globalen Militäreinsätzen.
Wie reagierte das österreichische Establishment auf diesen weiteren Großangriff auf die Neutralität? Es macht im Artikel 23f B-VG (heute 23j) die Ermöglichung zur Teilnahme an den „Petersberg Aufgaben“ zum Teil der österreichischen Verfassung. In den Erläuterungen wurde sogar explizit festgehalten, dass die Teilnahme Österreichs an EU-Kriegen auch dann „vollumfänglich“ möglich sei, „wenn eine solche Maßnahme nicht in Durchführung eines Beschlusses des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ergriffen wird.“ Die Bereitschaft, sich am Bruch von Völkerrecht zu beteiligen, wurde quasi in Verfassungsrang erhoben. Der damalige ÖVP-Klubchef Andreas Khol war vor Freude aus dem Häuschen: „Damit wird die Neutralität für den Bereich der EU außer Kraft gesetzt“ (Salzburger Nachrichten, 29.5.1998).
Nizza: EU-Interventionstruppe
Der nächste Schlag gegen die Neutralität erfolgte mit dem EU-Vertrag von Nizza (2001): Der Militärpakt WEU wurde – mit Ausnahme der Beistandsverpflichtung – in die EU integriert. Es wurden eine Reihe von militärpolitischen EU-Gremien geschaffen, um den Einsatz einer EU-Interventionstruppe entsprechend leiten zu können. Kommentar des Salzburger Völkerrechtsprofessors Michael Geistlinger: „Die neutralen und quasi-neutralen Staaten der EU sind unter die Rädere gekommen.“ (guernica 4/2002). Im österreichischen Parlament störte das niemanden. Rote, schwarze, grüne und blaue Nationalrats-Abgeordneten ratifizierten einstimmig den EU-Vertrag von Nizza.
Lissabon: Militärische Beistandsverpflichtung
Besondere Dynamik erlangte schließlich die EU-Militarisierung mit dem EU-Vertrag von Lissabon (2009). Weltweit einzigartig wurde eine Verpflichtung zur permanenten militärischen Aufrüstung im EU-Primärrecht verankert. Die Selbstermächtigung für globale EU-Militäreinsätze wurde unter dem vagen Titel „Anti-Terrorkampf“ ausgeweitet. Und: Die Beistandsverpflichtung, die bislang noch auf die WEU-Mitgliedstaaten beschränkt war, wurde nun völlig in den EU-Vertrag übernommen. Die EU-Beistandsverpflichtung ist sogar härter als die der NATO, weil die EU-Staaten dem Angegriffenen „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ schulden. Das heißt auch militärische Mittel. Der Artikel 5 der NATO verpflichtet dagegen nur zu allen „Maßnahmen, die sie für erforderlich halten, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ Das heißt den Staaten steht es selbst zu darüber zu entscheiden, mit welchen Mitteln – mit militärischen oder nicht-militärischen sie Beistand leisten wollen.
Der „Überschmäh“ mit der „Irischen Klausel“
Die Beistandsverpflichtung im EU-Vertrag bringt jene, die Neutralität und EU-Mitgliedschaft für kompatibel erklären, in ziemliche Verlegenheit. Denn eine Beistandsverpflichtung geht nicht einmal mit einer Bündnisfreiheit zusammen, geschweige denn mit Neutralität. Zumeist versuchen sich die Anhänger der Platter-Doktrin aus dieser Argumentationsnot zu winden, indem sie auf die „Irische Klausel“ verweisen (Art. 42 (7), EU-Vertrag). Diese besagt, dass die EU-Beistandsverpflichtung „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt lässt.“
Was dabei aber regelmäßig verschwiegen wird: Der Europäische Rat hat selbst im Jahr 2009 eine Präzisierung der „Irischen Klausel“ beschlossen. In dieser heißt es, dass es „es den Mitgliedsstaaten … unbenommen bleibt, zu bestimmen, welche Art von Hilfe und Unterstützung sie einem Mitgliedstaat leisten, der von einem Terroranschlag oder einem Angriff auf sein Hoheitsgebiet betroffen ist.“ Wohlgemerkt: WIE die Beistandspflicht geleistet wird und nicht OB! Die „Irische Klausel“ kann bestenfalls so ausgelegt werden, dass die EU-Beistandsverpflichtung denselben Charakter hat wie die der NATO. Niemand käme auf die Idee, die Mitgliedschaft in der NATO mit der Neutralität für vereinbar zu erklären. Doch in Bezug auf den EU-Vertrag wird der Bevölkerung weiter Sand in die Augen gestreut.
Der Milizoffizier Rainer Hable merkt deshalb zu Recht zur „Irischen Klausel“ an: „Österreich könnte also nicht-militärische Güter liefern oder finanziell unterstützen. Doch wer nicht-militärische Güter empfängt, kann eigene Mittel für militärische Güter freimachen. Und wer Geld erhält, ist ohnehin frei, Waffen zu kaufen. Im Ergebnis macht dies keinen Unterschied“ (Kurier, 22.3.2023). Aber das ist wohl ohnehin hypothetisch. Im „Landesverteidigungsbericht 2022“ lässt das Verteidigungsministerium bereits damit aufhorchen, dass die Beistandsverpflichtungen im Rahmen des EU-Rechts einen Beitrag Österreichs erfordern werde, der „auch militärische Fähigkeiten und Kapazitäten umfassen kann“. (Presse, 23.3.2023).
Der renommierte Linzer Völkerrechtsprofessor Manfred Rotter hat die Augenauswischerei rund um die „Irische Klausel“ einmal sarkastisch auf die Schaufel genommen. Das sei „eine Denkfigur, die „für kirchliche Trauungen angehen mag, bei welchen die Kinder des Brautpaares den weißen Schleier ihrer Mutter als augenzwinkernden Beleg für die Vereinbarkeit von Mutterschaft mit Jungfräulichkeit tragen.“ Rotter weiter: „In der rauen Wirklichkeit völker- und verfassungsrechtlicher Analysen aber sind dem interpretativen Überschmäh die Grenzen der Seriosität gesetzt. Jeder Versuch, immerwährende Neutralität mit der Mitgliedschaft in Verteidigungsbündnissen in Einklang zu bringen, überschreitet sie.“ (Der Standard, 7.12.2007)
Nicht weniger sarkastisch hat der deutsche Botschafter diese Strategie des „Überschmähs“ bereits einige Jahre zuvor auf den Punkt gebracht, als Österreich die Teilnahme an den EU-Battlegroups beschloss: „Solange ihr mit uns in Kriege zieht, ist uns euer Status egal“ (Die Presse, 18.11.2004).
„Auch der Frieden ist eine Frage der Macht“
Welche Schlussfolgerungen können jene Kräfte, die sich für ein neutrales, friedenspolitisch aktives Österreich einsetzen, aus dieser ernüchternden Analyse ziehen:
- Es gilt das Diktum von Ingeborg Bachmann „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Beteiligen wir uns also nicht am „Überschmäh“ der Regierenden, sondern sagen wir, was ist: Die EU ist nicht weniger ein Militärpakt wie die NATO – und daher auch genauso unvereinbar mit der Neutralität.
- Der Austritt aus der EU, jedenfalls aus allen vertraglichen Regelungen und Institutionen mit außen- und sicherheitspolitischen Bezügen bleibt das erklärte Ziel, wenn auch wohl auf absehbare Zeit wenig realistisch.
- Die Regierenden haben sich mit ihrer schrittweisen Demontage der Neutralität auch rechtlich auf Abwege begeben. Denn spätestens der Lissabon-Vertrag der EU mit seiner Beistandsverpflichtung hätte einer Volksabstimmung unterzogen werden müssen, damit dessen neutralitätswidriger Inhalt Rechtskraft in Österreich erlangt. Aus Feigheit vor der Bevölkerung haben Regierung und Parlament das unterlassen. Das Neutralitätsgesetz ist deshalb ungebrochen und uneingeschränkt gültig. Fazit: Die österreichische Verfassung gibt uns das Recht, ja verpflichtet uns dazu, die Neutralität gegen die „eigenen“ Machtträger zu verteidigen, die diese mit Füßen treten.
- Recht haben, nutzt freilich wenig, wenn man nicht die Macht hat, es auch durchzusetzen. Das ist die entscheidende Herausforderung für die österreichische Friedensbewegung. Denn wie Friedrich Wolf einen seiner Protagonisten im Schauspiel „Die Matrosen von Cattaro“ (1930) sagen lässt: „Auch der Frieden ist eine Frage der Macht!“