
Befreiung des Südens? Fall von Saigon? Ende des Vietnamkrieges? Keine der drei Lesarten ist falsch, doch jede zeigt eine bestimmte politische Sicht auf den historischen Moment des 30. April 1975.
Von Anjuska Weil
Das Bild mit dem T-54-Panzer, welcher geschmückt mit der Flagge der Befreiungsarmee, dem gelben Stern auf dem blau-roten Grund, das Tor durchbrach und auf das Gelände des Präsidentenpalastes in Saigon eindrang, ging um die Welt. Der Krieg war zu Ende, Vietnam war frei. Ein zerstörerischer Häuserkampf war den Menschen Saigons schliesslich erspart geblieben, denn der Kommandeur der südvietnamesischen Streitkräfte der Stadt hatte die aussichtslose Lage seiner Truppen anerkannt und sich ergeben.
Überall auf der Welt, wo die Solidaritätsbewegung den Kampf des vietnamesischen Volkes gegen die amerikanischen Aggressoren unterstützt hatte, wurde es ein ganz besonderer 1. Mai. In Zürich z.B. war der Helvetiaplatz voller freudig aufgewühlter Menschen, welche kleine Fähnchen der Befreiungsfront FNL (Front National de Liberation) schwenkten. In Ost und West sah es für einmal ähnlich aus. In einem DDR-Song hiess es: «Alle auf die Strasse, rot ist der Mai, alle auf die Strasse, Saigon ist frei!» Ein ohne Übertreibung historischer Sieg war errungen worden, in erster Linie durch den unbeugsamen Willen und die Leidensfähigkeit der Menschen in Vietnam, aber auch durch die Unterstützung des sozialistischen Lagers, insbesondere der Sowjetunion, und die weltweite Solidarität der Friedenskräfte trug ihren Teil zu diesem Sieg bei. In den USA, wo besonders viele afro-amerikanische Männer zum Kriegsdienst eingezogen wurden, war es nebst den Protesten gegen den Vietnamkrieg auch die Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. An einer ihrer Manifestationen prägte der Boxer Muhammad Ali den berühmt gewordenen Satz «No Vietnamese ever called me N*gger».
Befreiung!
Blenden wir zurück. Immer wieder in ihrer Geschichte mussten die Menschen Vietnams sich vom brutalen Joch fremder Herrschaft freikämpfen. Nicht von ungefähr erzählen ihre Legenden noch und noch von Befreiungskämpfen, von deren Heldinnen und Helden. Wer den in verschiedenen Städten wiederkehrenden Strassennamen nachgeht, findet sie. Seien es die Hai Ba Trung, die Schwestern Trung, welche sich im Jahr 11 vor Chr. mit einem Heer entschlossener Frauen den chinesischen Truppen entgegenstellten. Sei es Tran Hung Dao, dem es 1288 mit List und Klugheit gelang, die mächtige mongolische Flotte zurückzuschlagen, sei es der General und Kaiser Quang Trung, dessen Kämpfer 1789 während des Têt-Festes, dem Mondneujahr, die 10 000 Soldaten des chinesischen Heeres überrannten. Auch in der neueren Geschichte gibt es diese Heldinnen und Helden. Auf der ehemaligen Gefangeneninsel Con Dao, durch die berüchtigten «Tigerkäfige» bekannt geworden, wird die Schülerin und Widerstandskämpferin Vo Thi Sau als Märtyrerin verehrt. Sie hatte ein Attentat auf französische Kolonialsoldaten verübt und wurde 1952 hingerichtet. Ihre Grabstätte gleicht der einer Heiligen.
Die beiden überragenden Persönlichkeiten der Unabhängigkeit Vietnams waren im letzten Jahrhundert jedoch zweifellos Ho Chi Minh, der diese klug und umsichtig vorbereitete und am 2. September 1945 deklarierte, sowie der Historiker und General Vo Nguyen Giap, der die Truppen des Viet Minh 1954 bei Dien Bien Phu zum Sieg gegen die französische Kolonialmacht führte und die Armee der Demokratischen Republik Vietnams (so damals der offizielle Name Nordvietnams) auch im Kampf gegen die US-Truppen befehligte.
Zeit des Embargos
Unmittelbar nach dem Sieg in Saigon verhängten die USA ihr Embargo gegen Vietnam, dem sich damals, in der Zeit des Kalten Krieges, alle westlichen Staaten anschlossen. Das Embargo traf Vietnam mit all seinen Zerstörungen sehr hart. Die wenigen Nahrungsmittel und Güter des täglichen Gebrauchs waren streng rationiert. Das Embargo wurde noch zusätzlich verschärft, als vietnamesische Verbände in Kambodscha dem Morden Pol Pots 1979 ein Ende setzten. Die Rationierung konnte 1988 schliesslich aufgehoben werden, nicht zuletzt, weil die Bauern im Zuge der 1986 in Gang gesetzten Erneuerungspolitik Doi Moi den Boden wieder selbständig bebauen durften, nachdem die Kollektivierung der Landwirtschaft gescheitert war. Heute existieren in Vietnam wieder zahlreiche Genossenschaften, die allerdings auf einem freiwilligen Zusammenschluss beruhen. Mitte der 90er Jahre wurde das Embargo endlich schrittweise gelockert und schliesslich aufgehoben. Doch noch blieb Vietnam ein sehr armes Land. Dann, Schritt für Schritt, führte eine umsichtige Wirtschaftspolitik aus der schlimmsten Armut heraus. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sank die Armutsquote und ist heute bei tiefen einstelligen Prozenten angelangt. Dazu hat gewiss auch internationale Solidarität und Entwicklungszusammenarbeit beigetragen, doch entscheidend waren auch da die Anstrengungen der Vietnamesinnen und Vietnamesen selbst.
Dank einer umsichtigen Politik verschaffte sich das zunächst isolierte Land seinen Platz in der internationalen Gemeinschaft. Wurde es in der asiatischen Staatengemeinschaft ASEAN zunächst als feindlich betrachtet, so ist es heute in diesem Staatenverbund ein höchst angesehenes Mitglied. Vietnam hat heute zu allen Staaten und Territorien rund um den Globus Beziehungen aufgebaut und zahlreiche Wirtschaftsabkommen geschlossen. Dabei verfolgt die Staatsführung konsequent eine Aussenpolitik der Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, des Multilateralismus und der Diversifizierung. Seine «vier Neins» werden immer wieder bekräftigt: keine Militärallianzen, keine Bündnisse zulasten Dritter, keine ausländischen Militärbasen, keine Gewalt oder Gewaltandrohung in den internationalen Beziehungen. In der UNO wird Vietnam gehört. Als nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrates hat es friedensfördernde Resolutionen und solche zum Schutz verletzlicher Bevölkerungsgruppen eingebracht. Seine wachsende Zahl von Blauhelm-Soldatinnen und -Soldaten geniesst sowohl beim UNO-Generalsekretär Antonio Guterres als auch in den Einsatzgebieten hohes Ansehen. Gelobt werden vor allem die Qualifikation der Blauhelme und der mit 15 Prozent überdurchschnittlich hohe Anteil von Frauen in der Truppe. Dass Vietnam in den Ländern des globalen Südens grosses Ansehen geniesst, erleichtert die Einsätze. Aktuell sind vietnamesische Blauhelme im Südsudan aktiv.
Niemanden zurücklassen
Die Krankenversicherung – in Vietnam Gesundheitsversicherung genannt – hat heute nahezu alle Einwohner:innen erfasst, das Rentensystem wird weiter ausgebaut. Digitalisierung der Wirtschaft und neue Technologien werden energisch vorangetrieben. Doch Wirtschaftswachstum soll kein Selbstzweck sein, dies betonen der Generalsekretär der KP Tô Lâm und hochrangige Regierungsvertreter immer wieder. Heute ist ein Stand erreicht, bei welchem der Umsetzung sozio-ökonomischer Ziele noch höhere Priorität eingeräumt werden kann als bisher. Parallel dazu erfolgt eine konsequente Bekämpfung der Korruption. Die Parole «niemanden zurücklassen» wird konkret umgesetzt. Ein Beispiel dafür ist das Programm, mit welchem bis Ende 2025 alle ein stabiles Dach über dem Kopf haben sollen. Dazu müssen nahezu eine halbe Million Häuser neu gebaut oder gründlich saniert werden. Was fast unglaublich klingt, ist dank einer Mobilisierung der Gesellschaft voll im Gange. Geldmittel und Materialien werden zur Verfügung gestellt, Soldaten, die Ho-Chi-Minh-Jugend und andere sind fleissig am Bauen. Zehntausende von Häusern konnten bereits an die Bewohnenden übergeben werden. Die Entwicklung war weder fehlerfrei noch ohne Stolpersteine. Doch 50 Jahre nach der bitter erkämpften Unabhängigkeit steht Vietnam vor einem weiteren Abschnitt seiner Geschichte. Wie tröstete Präsident Ho Chi Minh damals unter dem zerstörerischen Bombenhagel seine Landsleute? «Wir werden Vietnam zehnmal schöner wieder aufbauen.» Diese Herausforderung ist weit über seinen Tod hinaus angenommen worden.
Gedenkveranstaltung: 50 Jahre befreiter Süden US-Amerikanischer Krieg in Vietnam Befreiung und Solidarität von 1954–1975 Gedenkveranstaltung – mit Blick auch in die Gegenwart und Zukunft Freitag, 23. Mai ab 18h im Gemeinschaftsraum ABZ Gertrudstrasse 99, 8003 Zürich, Apéro um 18 Uhr, Vorträge ab 19 Uhr